Ist Kata (noch) auf einem guten Weg?
Kata im Aufschwung
Ohne Zweifel haben die Kata im Judo in den letzten Jahren eine steigende Aufmerksamkeit erfahren. So wurden z.B. die ersten drei Gruppen der Nage-no-Kata in das Kyu- Prüfungsprogramm integriert und die Dan-Prüfungsordnung sieht vor, dass ein Kandidat künftig vor der Demonstration einer Kata deren Sinn kurz mündlich skizziert.
Das Kata-Wettkampfwesen, das im DJB bereits seit 1985 existiert, hat in den 1990er Jahren durch die schrittweise Ausweitung auf nunmehr fünf verschiedene Kata eine deutliche Erweiterung erfahren. Angetrieben durch die Aktivitäten der „World-Masters“-Wettkämpfe entwickelte sich eine zunehmende Internationalisierung des Kata-Wettkampfwesens in dessen Folge offizielle Europa- und Weltmeisterschaften der EJU bzw. der IJF eingeführt wurden. In
diesem Rahmen wurde national wie international ein Lizenzierungswesen für Wertungsrichter geschaffen.
Das Interesse an Lehrgängen japanischer Kata-Experten ist in den letzten rund 15 Jahren in Deutschland genauso gestiegen wie das Interesse an Kata-Training in Japan, z.B. im Rahmen der Sommerkurse des Kodokan. Derzeit gibt es einen nachhaltigen Trend zur Schaffung regelmäßiger zentraler Kata-Trainingsmöglichkeiten in einer Reihe von Landesverbänden.
Viele Landesverbände haben mittlerweile auch spezielle Kata-Beauftragte, so dass Kata dort auch institutionell verankert wurde. Trotz dieser stetigen Aufwärtsentwicklung von Kata, gibt es andererseits aber auch Stimmen, die vor Fehlentwicklungen warnen und/oder diese bereits als eingetreten betrachten. Wie verhält es sich damit? Ist Kata (noch) auf einem guten Wege? Welche Richtung sollte vermehrt eingeschlagen werden?
Zum Wesen der Kata
Am Anfang der Überlegungen muss die Frage beantwortet werden, ob und in wie weit die derzeitige Entwicklung der Kata noch deren Wesen entspricht, oder ob nicht bereits eine Fehlentwicklung eingesetzt hat, die umzukehren wäre. Wir müssen also nach dem Wesen von Kata fragen und dann kritisch reflektieren, ob der in der Praxis eingeschlagene Weg „sachgerecht“ ist.
Etwa im 16. Jahrhundert begann in Japan die strukturierte Überlieferung der Kampfsysteme der japanischen Krieger. In der langen Friedensperiode der Edo-Zeit (1603 bis 1868) entwickelten sich zahlreiche Schulen, die die Kampfsysteme verfeinerten und überlieferten. Die Überlieferungen beruhten auf dem „körperlichen Gedächtnis“ einstudierter Techniken, schriftlichen Aufzeichnungen („Densho“) und mündlichen Erläuterungen („Kuden“). Zu diesem Zweck wurden alle Techniken einer Schule „formalisiert“. Heute würden wir sagen, es wurden „schulmäßige“ Grundformen entwickelt, verfeinert und weitergegeben. Diese Formen nannte man „Kata“. Die Kata sind also zunächst nichts anderes als die Grundtechniken einer Schule.
Die Schulen haben weiterhin ihre Inhalte in einem gestuften System vermittelt, vom Anfänger bis zum Meister. Entsprechend gab es Kata für Anfänger, für Fortgeschrittene und für Meister. Die Kata waren also insofern auch die tradierten Lehrpläne einer Schule. In den meisten Schulen wurden ausschließlich oder nahezu ausschließlich Kata – also Techniken nach vorgegebenen Bewegungsformen für Tori und Uke – geübt. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich zunehmend Formen des freien Übens (Randori).
Die Lehrer, von denen Jigoro Kano vor der Gründung des Kodokan das Jujutsu der Tenjinshinyo-ryu und der Kito-ryu lernte, legten bereits sehr viel Wert auf Randori, so dass es nicht verwunderlich ist, dass Kano eine Kombination aus Randori und Kata für essentiell bei der Entwicklung kämpferischer Fähigkeiten erachtete. Er verglich Kata dabei oft mit der Grammatik und Randori mit dem Schreiben eines Aufsatzes. Eines sei ohne das andere nicht möglich. Kata entspricht dem, was wir heute als „geschlossene Bewegungsform“ bezeichnen würden, während Randori einer „offenen Bewegungsaufgabe“ entsprechen würde. Beides sind übrigens selbstverständliche Formen des Übens in jedem Training – sowohl bei den Anfängern, als auch bei den Fortgeschrittenen und bei Leistungssportlern.
Kata als exemplarisches Lernen
Die Zahl der Techniken im Judo ist deutlich größer als die Zahl derer, die in Kata formalisiert wurden. Das liegt daran, dass J. Kano bewusst nur eine Auswahl vorgenommen hat, anhand der jedoch die wichtigsten Prinzipien exemplarisch erschlossen werden können und sollen. So bestand das Kodokan Judo bei der Festlegung der Nage-no-Kata im Jahr 1906 „offiziell“ aus 42 Wurftechniken, die bereits 1895 in der ersten Version der Gokyo-no-waza in fünf Lernstufen zusammengestellt waren. Nur 15 davon fanden jedoch Eingang in die Nage-no- Kata.
Die Kata des Kodokan Judo stellen also nicht das gesamte Spektrum der zu überliefernden Techniken dar, sondern lediglich eine repräsentative Auswahl, die jedoch so zusammengestellt wurde, dass sie einerseits die Vielfalt der Techniken repräsentieren, andererseits aber auch die wesentlichen Lektionen zum Verständnis der den Techniken zugrunde liegenden allgemeinen Prinzipien anhand der Kata gelernt werden können.
Sinn und Zweck des Kata-Trainings
Es gehört zu den Grundforderungen jeder Didaktik, dass Ziele, Inhalte und Methoden in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen müssen. Die Übungsziele können neben dem körperbildenden Aspekt im Beherrschen der Technik selbst und/oder andererseits im Verständnis der zugrunde liegenden übergreifenden Prinzipien liegen, die eine Form exemplarisch illustriert.
Ein Schüler, der z.B. die Nage-no-Kata vollständig erlernt hat, sollte damit nicht nur ein breites Spektrum unterschiedlicher Wurftechniken beherrschen, sondern auch die allen Wurftechniken zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten verstanden haben. Oder anders herum ausgedrückt: Wer einem Schüler Nage-no-Kata vermittelt, sollte diese als Trainingsmittel verstehen, um dem Schüler die Grundlagen aller Wurftechniken körperlich erfahrbar und kognitiv einsichtig zu machen. Dasselbe gilt analog natürlich auch für alle anderen Kata und deren Inhalte.
Und die Praxis?
Gelingt dies nicht, muss man das Training als zumindest teilweise gescheitert betrachten. Fragt man in der Fläche nach, ob z.B. ein Prüfling nach bestandener Dan-Prüfung zur Ansicht gelangt ist, dass sich sein Verständnis über Judotechnik durch das Üben der Kata erweitert hat, bekommt man oftmals frustrierte und/oder frustrierende Antworten. Vielfach ist man mit Aussagen wie „Ich weiß nicht, was das Ganze soll?“ konfrontiert.
Die Motivation eine Kata zu lernen entwächst erfahrungsgemäß auch selten aus dem Wunsch, das eigene Verständnis von Judo zu erweitern. In der Regel geht es doch nur um die (nächste) Dan-Prüfung. In der Praxis muss man sogar umgekehrt feststellen, dass eine nicht vorhandene Bereitschaft, eine Kata zu lernen, für viele Leute der Grund ist, sich keiner Dan-Prüfung zu stellen.
Das Erlernen und Üben einer Kata scheint also in weiten Teilen nicht den gewünschten Effekt zu haben. Wer das Ohr an der Basis hat, wird recht schnell eine Reihe von Gründen hierfür vernehmen können:
- zu viel Formalismus (z.B. im „Zeremoniell“)
- subjektiv wahrgenommene ständige „Änderungen“ der Kata
- „drei Trainer – vier Meinungen“
- usw.
Besonders vernichtend ist natürlich, wenn die Frage gestellt wird „Was hat Kata denn mit Judo zu tun?“ oder noch schlimmer, wenn Kata apodiktisch mit der Überzeugung abgeurteilt wird: „Das ist doch kein Judo!“
„Verstecktes“ Kata-Training
Wenn man sich der Problematik ganz unvoreingenommen nähert, wird man feststellen, dass Judotraining nicht ohne Übungen auskommen kann, in denen die Aktionen von Tori und Uke genau festgelegt sind. In jedem Training gibt es die Notwendigkeit „geschlossener Bewegungsaufgaben“ – oder mit anderen Worten: von Kata.
In jedem Verein gibt es wohl auch die tradierten „schulmäßigen“ Ausführungen für die allermeisten Techniken. Als Kind und Jugendlicher musste der Verfasser z.B. praktisch alle Techniken aus einem Drei-Schritt-Rhythmus aus der Rückwärtsbewegung lernen. Erst wenn diese Stufe genommen war, wurde die Situation variiert und es kamen „offene“ Elemente hinzu.
In gewisser Weise ist es sicher nicht falsch zu sagen, dass die meisten Übungsleiter ihre eigenen in der Praxis entstandenen „Kata“ vermitteln, die innerhalb eines Vereins von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Denn Hand auf´s Herz: wie viele Übungsleiter vermitteln denn eine Technik genau so, wie sie sie bereits von ihren Lehrern gelernt haben – oder wie sie sich daran erinnern?
Kata im weiten Sinn ist also in den meisten Vereinen allgegenwärtig – wir nennen es nur nicht so!
Man kommt aber nicht umhin, auch über den Aspekt der Qualität nachzudenken. Wir müssen kritisch hinterfragen, ob diese tradierten „schulmäßigen“ Formen auch tatsächlich geeignet sind, die wesentlichen Grundprinzipien des Judo in der Breite abzudecken und zu vermitteln. Wenn man über die Jahre so viele fortgeschrittene Judoka auf der Matte erlebt hat wie der Verfasser, dann werden ihm massive Zweifel hoffentlich nachgesehen (wobei es natürlich
stark von der Sachkompetenz der jeweiligen Trainer abhängt).
In den traditionellen Kata des Kodokan stecken jede Menge Wissen und Erfahrungen derer, die sie (mit-)entwickelt haben. Der Verzicht auf diese Kata als Trainingsinhalt und Trainingsmittel würde auch den Verzicht auf die inkludierten Lehren bedeuten. Wäre das wirklich klug?
Wie sollten wir uns den Kata des Kodokan Judo (wieder) nähern?
Scheinbar – und darauf weisen die vielen überall zu vernehmenden negativen Äußerungen hin – gelingt es derzeit trotz des wachsenden Interesses an Kata nicht, den Wert der Kata in die Fläche zu tragen. Die Problematik liegt nach Ansicht des Verfassers hauptsächlich in den sich leider hartnäckig haltenden Diskussionen um „richtig“ oder „falsch“ als den scheinbar einzigen Kategorien, vor deren Hintergrund eine Kata betrachtet wird.
Gängige Formulierungen wie „es soll demonstriert werden, dass…“ oder „man soll erkennen, wie….“ usw. zeugen von einer Bedeutungsbeimessung, die man fast schon als Desorientierung bezeichnen kann, denn es ist nichts als ein grobes Missverständnis, wenn offen oder unterschwellig vermittelt wird, es käme bei einer Kata darauf an, dass etwas „demonstriert“ würde. Richtig wäre: es soll etwas gelernt werden!
Natürlich wird das Gelernte z.B. bei einer Prüfung demonstriert und natürlich soll man bei dieser Demonstration auch erkennen, dass etwas gelernt wurde, aber der Sinn einer Kata besteht eben nicht darin, dass man sie anderen demonstriert – ihr Sinn besteht darin, dass man selbst etwas lernt! Dies muss auch der Maßstab bleiben, an dem sich das Vermitteln von Kata messen lassen muss.
Jede Kata hält eine Vielzahl von „Lektionen“ bereit, die der Übende verinnerlichen soll. Die Aufgabe des Kata-Lehrers besteht darin, seinen Unterricht so zu gestalten, diese „Lektionen“ lernwirksam werden zu lassen. Diese Erfahrungen sind von grundlegender – oder mit anderen Worten „prinzipieller“ – Natur. Die immer wieder neu auftauchenden Lösungen von Kampfsituationen und „neuen“ Techniken sind letztlich nichts anderes als immer wieder neue Varianten derselben Prinzipien. Ohne Kenntnis dieser Prinzipien lassen sich aber keine neuen Variationen finden und keine neuen Lösungen entwickeln – oder, um es in Anlehnung an Kano zu sagen, ohne Kenntnis der Grammatik lässt sich kein Aufsatz schreiben. Die in den Kata formalisierten und kodifizierten Prinzipien sind damit auch die Basis jedweder Kreativität im Judo.
Anstatt aber nun danach zu fragen, ob z.B. im Abstand von fünf oder von sechs Metern angegrüßt wird, wie der Gürtel bei Kata im Gegensatz zum Randori zu binden sei, sollte das Wesentliche, das Übergreifende und das Exemplarische an jeder einzelnen Technik in den Kata erst einmal herausdestilliert werden, um es im Anschluss durch das Üben der Kata dem Lernenden anbieten zu können. Die Kata wären (wieder) das Fundament, auf dem sich Verständnis des Judo gründen kann.
Leider treten diese Aspekte in der Praxis meist hinter die formalen Aspekte zurück oder kommen gar gänzlich nicht bei den Übenden an. Die Orientierung des Übens von Kata an Bewertungskriterien – sei es für Prüfung oder Meisterschaften – wirkt leider allzu oft als Katalysator in die falsche Richtung, nämlich genau dann, wenn nur noch nach äußerer Form und nicht nach „innerem Verständnis“ ge- und beurteilt wird. Von einem qualifizierten Kata- Lehrer (oder Prüfer/Wertungsrichter) muss man aber erwarten, dass er dieses Verständnis hinter der äußeren Form erkennen und validieren kann.
Kata-Experten müssen unbedingt auch umfassende Judo-Experten sein. Sie müssen in der Lage sein, über das vordergründige „richtig“ oder „falsch“ hinaus die einer Kata zugrunde liegenden Prinzipien zu lehren, ihre Anwendung in Randori und Wettkampf zu erkennen und zu vermitteln. Sie müssen weiterhin die Kata-Studierenden befähigen, die durch Beschäftigung mit den Kata erfahrenen Lektionen selbstständig auf andere Situationen zu übertragen. Der Kata-Lehrer darf nicht allein den nächsten „Grammatik-Test“ (=Dan-Prüfung oder Kata-Meisterschaft) im Auge haben, sondern auch den nächsten Aufsatz, den sein
Schüler schreibt.
Für die Zukunft ist zu hoffen, dass das gestiegene grundsätzliche Interesse an Kata auch zu einer Besinnung auf den zweifellos vorhandenen Wert der Kata führen und diese wichtigen Aspekte einschließen wird. Erst wenn dies gelingt und auch durch Rückmeldungen der Lernenden bestätigt wird, kann man davon sprechen, dass Kata auf einem guten Weg ist.
Aber auch der längste Weg beginnt mit kleinen Schritten.